WANDEL aus verschiedenen Perspektiven

4. WANDEL als Erwachen – Wachsen und sich Entfalten

Vor vielen Jahren, als ich noch Kinder unterrichtete, liebte ich zur Frühlingszeit ganz besonders das Gedicht von der „Tulpe“, das mit folgendem Satz begann: „In der Erde tief, die Zwiebel schlief, die braune...“ Leider kann ich die Strophen nicht mehr auswendig, empfinde aber ihre Essenz und Bildhaftigkeit so stark, dass diese völlig unerwartet beide genau jetzt das Erdreich verlassen möchten wie die Blume selbst, um die es hier geht.

Da – es gibt einen Augenblick, in dem der im Verborgenen gewachsene Keim durch die vielen Schichten und Schalen der Zwiebel hindurchbricht. Noch muss er sich zwar ein Stück seines Weges durch das dunkle Erdreich bahnen. Weiß er um die Welt „da oben“ oder folgt er nur seinem ihm innewohnenden Gesetz, dem Drang zu wachsen und dabei die Ebenen zu wechseln?

Warum wird dagegen der „Tod“ und das „Sterben“ des Weizenkornes in der Erde Menschen gleichnishaft fast ausschließlich als etwas Schmerzbetontes vermittelt? Könnte der Wandlungsprozess nicht auch als Faszination gesehen werden? Ich habe immer staunend vor dem Wunder gestanden, wie z. B. Grashalme es schaffen, nicht nur aus der Erde zu sprießen, sondern sich sogar durch Asphaltdecken hindurchzubohren. Ist nicht das die Kraft der Schöpfung und die Kraft unserer Seele, aus der vielleicht auch eine bisherige Sichtweise zu einem neuen Blickwinkel fände?

Der Tulpen-Keimling strebt einfach seinen Weg nach oben und erblickt, wiederum in einem spannenden Moment, schließlich das Licht der Welt. Was ihn da alles an Neuem umgibt, ist ungeheuerlich. Aber er lässt sich durch keine Ablenkung irritieren. Er wächst und wächst weiter und wird länger und dicker und breiter. Er wechselt sogar seine Farbe vom Weiß zum Grün und „entpuppt“ sich schließlich inmitten von ebenfalls wie aus dem Nichts zu seinen Seiten entstandenen, länglichen Blättern als Halm, Stiel oder Stängel.

In diesem unermüdlichen Wachstumsprozess geschieht aber wiederum etwas Unerwartetes. Plötzlich spürt der sich entfaltende Stängel, dass sich seine Spitze verdickt und an ihr etwas entsteht, womit er in seiner Geradlinigkeit nicht gerechnet hat - eine Knospe! Hallo, was ist denn das? Ist der Stiel etwa schwanger geworden? Es ist wie ein eigenes Wesen, das sich da an seinem „Ende“ bildet und immer größer und fülliger wird.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Im Tau des beginnenden Tages und im Schein der Sonne ist nur noch Hingabe gefragt, damit der letzte Schritt geschehen kann - gleichnishaft und real wie bei der Transformation der Raupe zum Schmetterling... Eines Morgens ist es so weit, da ist sie erwacht und „hat einen langen Hals gemacht“. Da tritt sie in Erscheinung, die geborene Prinzessin, „mit einem hübschen Tulpengesicht“. Mit diesem endet das oben erwähnte Gedicht. Aber in unserem Herzen, fängt es da nicht erst richtig an?

Wirklich? Die Tulpe hat zwar keine Beine und keine Flügel und kann auch nicht in die Welt hinaus fliegen wie der Schmetterling. Aber sie steht auf ihrem Platz, sicher und klar, in ihrer vollen Entfaltung und Pracht... und leuchtet und strahlt... gelb oder rot oder bunt und gestreift... und verströmt ihren Duft. Mit diesem und ihrem samtigen Farbglanz lädt sie den Schmetterling ein, auf ihr zu schaukeln und sich von ihrem Nektar zu nähren... in inniger Liebesumarmung...

 

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